Verloren und gefunden (Matthäus 18,10-14)
Gottesdienst am 20.9.2020 in Brombach

Liebe Gemeinde,
unser Nachbar hat einen großen Hund. Als wir Sonntagmorgen zum Gottesdienst aufbrachen, lief der Hund in vollem Tempo an uns vorbei. „Komisch“, dachte ich, „ich habe ihn noch nie frei auf der Straße laufen sehen.“ Am nächsten Morgen berichtete mir dann der Nachbar vom Sonntags-Drama. Ja, der Hund war vorher noch nie weggelaufen. Er muss Panik bekommen haben, weil der Nachbar für den Urlaub packte. Eine große Suchaktion startete in den Straßen, im Feld und im Wald, sein Auto war über und über mit Schlamm bespritzt, aber kein Hund war zu finden. Schließlich half ein Anruf bei der Polizei, eine aufmerksame Wald-Spaziergängerin hatte den Hund gefunden und mit zu sich genommen. Wohlbehalten konnte der Nachbar ihn wieder in Empfang nehmen. Der Urlaub allerdings war nun Geschichte, die Fähre auf eine Nordseeinsel war nicht mehr zu schaffen. Doch Hauptsache, der Hund war wieder da!

Jesus erzählte ein Gleichnis aus seiner Lebenswelt, er sprach nicht von Hunden, sondern von Schafen. Entscheidend ist wohl nicht, ob Hund oder Schaf, sondern wieviel wert uns das ist, was fehlt. Lassen wir Hund oder Schaf laufen, oder tun wir alles, um sie wiederzufinden?

Das Gleichnis vom Verlorenen Schaf, das Jesus erzählte, wird von zwei Evangelien, Lukas und Matthäus, wiedergegeben. Bekannter ist die Lukas-Version, sie bringt es auf den Punkt: Jesus sucht und findet. Matthäus wirft einen etwas anderen Blick auf das Gleichnis, und es ist spannend, seinen Akzent zu entdecken.

Wer ist Gott wichtig?
Matthäus bettet das Gleichnis in sein Gemeinde-Kapitel ein, in dem er beschreibt, wie Jesus sich die nachösterliche Gemeinde vorstellt. Wer ist Gott wichtig? Wer darf zur Gemeinde nach Jesu Auferstehung dazukommen? Jesu Freunde könnten antworten: Die Größten, die Stärksten, die Wichtigsten, die Glaubenshelden. Jesus sagt hier: Die Kleinen, Schwachen, Ausgegrenzten, auf Hilfe Angewiesenen, die Kinder. Jesus stellt ein Kind in die Mitte und nimmt es als Beispiel. Wie ein kleines Kind abhängig von den Eltern, dankbar für Hilfe, vertrauensvoll ohne Hintergedanken ist, so sollen Nachfolger Jesu sich sehen, abhängig von Gott, auf seine Hilfe hoffend und bedürftig, vertrauensvoll, weil der Vater im Himmel für sie da ist.

Als ob Jesus auch das Menschliche in einer Gemeinde schon vorausgesehen hatte, warnte er, die „Kleinen“, die auf Gott vertrauen, nicht zu entmutigen, sie nicht von Gott fortzutreiben, ihre zarten Glaubensbande nicht zu zerreißen.

Matthäus 18,10-14
»Nehmt euch in Acht: Ihr sollt keinen von diesen kleinen, unbedeutenden Menschen von oben herab behandeln! Denn das sage ich euch: Ihre Engel stehen im Himmel direkt vor meinem himmlischen Vater. Was meint ihr: Ein Mann besitzt hundert Schafe, aber eines davon verläuft sich. Wird er dann nicht die neunundneunzig Schafe im Bergland zurücklassen und losgehen, um das verirrte Schaf zu suchen? Und wenn er es gefunden hat – Amen, das sage ich euch: Er freut sich über dieses eine Schaf viel mehr als über die neunundneunzig anderen Schafe, die sich nicht verlaufen haben.  Genau das will euer Vater im Himmel: Kein einziger von diesen kleinen, unbedeutenden Menschen darf verloren gehen.«

Die Kleinen haben himmlische Fürsprecher
Jesus kannte uns gut mitsamt unserem Reflex des Radfahrens, nach oben zu buckeln, nach unten zu treten. Wenn eine einflussreiche Person zur Gemeinde dazustößt, ist man stolz und fühlt sich aufgewertet. Dass Hillary Clinton zur weltweiten Evangelisch-methodistischen Kirche gehört, erzählen wir gerne. Dass allerdings Max oder Erika Mustermann dabei sind, ist eher nicht der Rede wert, der Alltag geht weiter. Wenn dann sogar jemand dazukommt, der aus unserem bürgerlichen Raster fällt, rümpfen wir schon mal die Nase, vielleicht riecht er auch nicht so angenehm. 

Jesus gebrauchte eine damals übliche Vorstellung, um den Ernst der Lage zu veranschaulichen. Man ging davon aus, dass jeder Mensch einen persönlichen Schutzengel zur Seite hatte, der für ihn eintrat und ihn mit Gott verband. Wurde also ein „Kleiner“ schlecht behandelt, sandte sein Schutzengel einen Alarm zu Gott. Jesus brachte damit zum Ausdruck, dass unser Verhalten Menschen gegenüber, die uns scheinbar unterlegen sind, nicht egal ist oder ohne Konsequenzen bleibt. Die Kleinen haben Fürsprecher bei Gott, Anwälte, die für sie eintreten.

Jesus und sein Eintreten für uns bei Gott stellt alle Vorstellungen von Schutzengeln in den Schatten. Er hat uns zugesagt, alle Tage bei uns zu sein, und er vertritt uns und unsere Anliegen vor Gott.

Das Miteinander in der Gemeinde soll nicht von Einfluss, Geld und Können abhängen, sondern sich durch Gemeinschaftsfähigkeit, Vergebungsbereitschaft, gegenseitige Hilfe auszeichnen, es soll ein Netzwerk der Liebe und Fürsorge sein.

Handlungsanweisungen für die Gemeinde
Das Gleichnis beschreibt nicht die Ideal-Situation, dass alle glücklich beieinander sind, sich umeinander kümmern, teilen, nach Gottes Willen leben. Es schildert eher den Konfliktfall. Aus der Schafherde fällt ein Schaf heraus, es „verläuft“ sich. Aus der Gemeinde Jesu fällt ein Mensch heraus. Wir können dabei „Gemeinde“ weiter fassen. „Schafe“ sind nicht nur Christen, sondern Menschen, für die Gott in die Welt gekommen ist. Ein „verlorenes Schaf“ ist ein Mensch, der die Orientierung verloren hat. Vielleicht ist er selbst weggelaufen, hat Sicherheiten aufgegeben, Abenteuer gesucht, ist dabei falschen Anführern hinterhergelaufen. Vielleicht ist er verlassen worden, die anderen waren schneller, haben ihn überholt, sich nicht nach ihm umgedreht, waren auf einmal enteilt. Vielleicht musste jemand eine Enttäuschung erleben, hat aufgegeben, keinen Mut zum Neuanfang gehabt. Vielleicht kann er was dafür, vielleicht auch nicht, wie die Waisenkinder von Lesotho, für die wir heute sammeln. Sie können nichts für die Krankheit HIV und dass keine Verwandten mehr da sind, die für sie sorgen können. 

„Ein Mensch“ merkt es. Er verlässt die Bergweide mit all den anderen Schafen und macht sich auf die Suche. Es ist nicht klar, ob er das Schaf wirklich findet, aber er versucht es. Wer ist der Mensch? Hier ist wohl nicht Jesus selbst im Blick, sondern einer oder eine, die Gott beauftragt zu suchen. Sie soll Gottes Willen erfüllen und losgehen, dem Verlorenen hinterher. 

Beim Finden wird große Freude sein. Viel größere Freude, als über die 99 anderen Schafe, die immer noch auf der Bergweide grasen. Ist das eine Schaf wertvoller? Wahrscheinlich nicht. Aber sein Finden war mit größerer Anstrengung verbunden. „Der Mensch“ machte die Erfahrung, dass er beim Suchen gebraucht wurde, er hat das Schaf auf seinen Schultern getragen, Finder und Gesuchtes gehen eine Beziehung ein, die bleibt. Dieses Schaf wird „der Mensch“ erstmal nicht mehr aus den Augen lassen.

Handlungsanweisungen für uns
Genau das will der Vater im Himmel, so schärft es Jesus ein:

  1. Achtgeben: Wer fehlt? Bei dieser Frage richten wir unser Augenmerk auf die „Kleinen“. Wer braucht Liebe, Zuwendung, Heimat, einen Arzt für die Seele?
  2. Auf die Suche machen: Wir suchen nach einer Verbindung, nach Anknüpfungsmöglichkeiten. Wir investieren Zeit und werden kreativ.
  3. Finden im Sinne Jesu: Dass die Gefundenen die Erfahrung machen, geliebt von Gott zu sein, zu ihm zu gehören. Das heißt auch, ihnen am Berghang Platz zu machen, Privilegien abzugeben, sie aufzunehmen.
Ob wir finden, hängt letztlich an Jesus, der unserem Suchen immer vorangeht. Aber wir sind in seinem Rettungsteam, gehören zu seiner Rettungsstaffel, und er schickt uns in den Einsatz.

Matthäus setzt die Betonung auf unsere Aktivität: Ihr habt Augen im Kopf. Nehmt wahr, wer fehlt. Geht nach und orientiert euch immer nach unten. 

Was Jesus nicht ausführt, wir tauschen lebenslang die Rollen. Wir sind nicht immer bei der Rettungsstaffel, sondern gehen in Phasen unseres Lebens durchaus auch mal verloren, brauchen einander, um wieder Anschluss zu finden. Das macht uns sensibel dafür, wie es sich anfühlt, ein „verlorenes Schaf“ zu sein. Und es motiviert, sich nicht mit 99 Schafen auf der Weide abzufinden.

Den Kindern in Lesotho können wir mit Spenden helfen, unseren Nächsten hier können wir durch unser Mit-ihnen-Leben nahe sein und ihnen helfen, Jesus neu zu vertrauen. Das ist in diesen Wochen besonders spannend, wo wir den selbstverständlichen Kontakt zu unseren Nächsten oft nicht mehr haben. Es ist im Sinne Jesu, die im Blick zu haben, die nicht unter die Leute kommen, auf einen Anruf warten. Die mit ihren Lebensproblemen im Moment so wenig Hilfe bekommen können, weil Ämter überlastet sind und Termine in Beratungszentren nur schwer zu bekommen sind. Die finanziell in Not geraten sind und schnelle, unbürokratische Unterstützung brauchen. 

Wenn wir selbst diesen Blick Jesu brauchen, können wir Gott unsere Not anvertrauen und aufmerksam sein, welche Hilfe er uns gibt. Vielleicht bietet jemand ganz überraschend seine Begleitung an. Vielleicht hört uns eine Freundin zu, wenn wir uns trauen, von unserern Ängsten zu reden. Und manchmal tun sich Türen auf, die wir als ewig verschlossen wahrgenommen hatten. Gott wird uns nicht allein lassen, er hat Phantasie, uns auf vielerlei Arten zu suchen und zu finden.

Cornelia Trick


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